B. Pietrow-Ennker (Hrsg.): Kultur in der Geschichte Russlands

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Titel
Kultur in der Geschichte Russlands. Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten


Herausgeber
Pietrow-Ennker, Bianka
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jörn Happel, Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Universität Basel, Historisches Seminar

Der Sammelband «Kultur in der Geschichte Russlands» ist menschlichen Wahrnehmungen, Deutungen und Sinnhorizonten als Voraussetzung von sozialer und politischer Interaktion sowie als Konstruktion der Wirklichkeit gewidmet (S. 13): Im Zeichen der Neuen Kulturgeschichte hat die Konstanzer Osteuropa -historikerin Bianka Pietrow-Ennker 19 Aufsätze versammelt, die jedoch in der Zusammenstellung eine Einheit vermissen lassen. Dies räumt auch die Herausgeberin in ihrer Einleitung ein, in der sie anschaulich die kulturgeschichtlichen Forschungen der letzten Jahre erläutert. So geht es hier um Kultur im breitesten Verständnissinne. Diskutiert werden «Raum-Denken: Prozesse der Wahrnehmung, Deutung und Erinnerung», «Vom Moskauer zum Petrinischen Reich: Anschluss an die westliche Welt durch neue mediale Strategien», «Russland im 19. Jahrhundert: Identitätskonstruktionen in der beginnenden Moderne», «Lebensweltliche Perspektiven auf gesellschaftlichen Wandel» und «Die Narrative der Macht und die Macht der Narrative».

Das erste Kapitel beginnt mit einem orthodoxen Erinnerungsraum des 17. Jahrhunderts: Guido Hausmann stellt überzeugend die Überquerung der Wolga als Motiv eines räumlichen Aneignungsprozesses dar (S. 49). Oliver Reisner behandelt Formen der Kolonisierung des Kaukasus, beschreibt nicht wandlungswillige russische Eliten und einheimische Assimilation. Tom Jürgens zeigt, wie in Museen «Sibirien» ausgestellt wurde und behandelt das Verhältnis von Eigenem zu Fremdem. Den zweiten Buchteil eröffnet Jurij Murasˇov mit langen Überlegungen zur Medientheorie, gibt dann aber nur spärlich Beispiele – hier aus dem 16. Jahrhundert. Riccardo Nicolosi nimmt sich der Kunstkamera Peters I. an. Daran anknüpfend diskutiert Ingrid Schierle den russischen Vaterlandsbegriff «otecˇestvo» in Bezug zu Territorium, Familie, Gemeinwesen, Kultur- und Erinnerungsgemeinschaft.

Lutz Häfner folgert in seiner anregenden Studie, dass in Russland dem Duell der kulturelle Inhalt fehle (S. 176), handle es sich doch um ein «westliches Transplantat » (S. 168). Susi K. Franks Ausführungen über russisch-sibirische Rassentheorien bieten Kolonialismusforschern zahlreiche Ideen hinsichtlich des Elitendiskurses über das Fremde. Rainer Lindner stellt die südrussische Stadt Ekaterinoslav als Beispiel für die imperiale Integration Neurusslands vor. Die Stadt sollte grosse Bedeutung für das Imperium erhalten, doch sank sie lange in einen Dornröschenschlaf. Ekaterinoslav stehe somit für eine «Symbolkrise, in die das Imperium im 19. Jahrhundert in Folge einer gleichzeitigen Krise der Macht eintrat» (S. 238).

Drei Beiträge nutzen Gender-Methoden: Während Elisabeth Cheauré, Antonia Napp, Elisabeth Vogel über Geschlechterperformanz reden und dies mit ihrem Bilddiskurs (Kiprenskij) und ihrem Erzählbeispiel (Karamzin) zu konkretisieren versuchen, reduzieren Julia Obertreis und Carmen Scheide erfrischend die theoretischen Überlegungen. Obertreis lässt am Alltagsleben in einem Leningrader Haus und an den dortigen Auseinandersetzungen teilhaben; Scheide liefert anhand eines Frauenlebens Ansatzpunkte zur Erforschung des Verhältnisses von Individuum und Strukturen. Ähnlich geht es Jörg Baberowski um Erfahrungen. Er diskutiert die Frauenrolle in Kirgisien, wobei er Kultur als stetigen Austausch von Sinnwelten definiert: «Überall, wo gehandelt und gedeutet wird, ist Kultur» (S. 280). Eva Maeder knüpft daran an, wenn sie das Überdauern altgläubigen Lebens während der Sowjetzeit bespricht.

Im letzten Abschnitt des Bandes sind weitere interessante Einzelbeiträge versammelt: Birgit Menzel über Sciencefiction in der Perestrojka-Zeit, Rosalinde Sartorti über mediale Putin-Inszenierungen und Jana Bürgers über den Kosakenmythos. Besonders Bürgers Artikel fasziniert mit Einblicken in Museums- und Nationskonstruktionen in der Ukraine. Im Rahmen einer «doppelten Mythologisierung von Museen» (S. 363) hätte er durchaus in eine Reihe mit Jürgens, Nicolosi und Frank gepasst.

Den Sammelband schliesst Dmitri Zakharine mit Überlegungen zum neuen Kulturkonzept der historischen Osteuropaforschung ab. Dabei provoziert er die Leser mit der Aussage, sie würden nicht immer die Leistung eines Sammelbandes anerkennen (S. 369). Doch hat zumindest der Rezensent erkannt, dass die Leistung des Buches in den gründlich recherchierten Einzelbeiträgen liegt, welche Lust auf weitere Lektüre zu den behandelten Themen wecken.

Zitierweise:
Jörn Happel: Rezension zu: Bianka Pietrow-Ennker (Hg.): Kultur in der Geschichte Russlands. Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, S. 496-497.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, S. 496-497.

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